Rechtsprechung der Sozial- und Verwaltungsgerichtsbarkeit
Nachfolgend sollen die von mir für gehörlose sowie hörbeeinträchtigte Menschen vor der Sozial- und Verwaltungsgerichtsbarkeit erstrittenen Gerichtsentscheidungen näher aufzeigt werden.
Diese Gerichtsentscheidungen sollen u.a. darüber informieren, welche extremen - tendenziell objektiv-willkürlichen - bürokratischen Hürden die Sozialleistungsträgern den Hilfesuchenden im Hinblick auf die von ihnen beantragten Kostenübernahmen für das Erlernen der Deutschen Gebärdensprache sowie die Anwendung dieser Sprache in den Regel- und Förderschulen und Kindergarteneinrichtungen unter gänzlicher Außerachtlassung verfahrensrechtlicher und grundrechtlicher Schutzvorschriften nebst UN-BRK (z.B. keine Bedarfsermittlung/Bedarfsfeststellung im Rahmen der Einholung von Sachverständigengutachten gem. § 17 SGB IX) grob rechtwidrig in den Weg stellen.
Zudem soll aufgezeigt werden, dass der Stand der Wissenschaft im Hinblick auf das (notwendige) Erlernen der Deutschen Gebärdensprache von gehörlosen und hörbeeinträchtigten Hilfesuchenden z.B. im Falle von mit Cochlear-Implantaten versorgten Kindern von den Behörden unter Verstoß der gesetzlichen Amtspflichten (§ 20 SGB X) gänzlich missachtet wird und die angerufenen erstinstanzlichen Gerichte ihren objektiven und neutralen richterlichen Amtspflichten - von rühmlichen Ausnahmen abgesehen - selten zu Lasten der hilfesuchenden Kinder nachkommen.
Die rechtlichen Streitigkeiten ggü. den Sozialleistungsträgern umfassen Anträge von gehörlosen Kindern und hörenden Eltern auf eine Kostenübernahme für Gebärdendolmetscherkosten in folgenden (Lebens)Situationen:
1. Regel- und Förderschulen
2. Kindergarteneinrichtungen
3. Hausgebärdensprachkurse für gehörlose Kinder
4. Hausgebärdensprachkurse für hörende Eltern
Die nachfolgenden Gerichtsentscheidungen sollen nunmehr in der vorgenannten Reihenfolge - versehen mit kurzen Schlagwörtern über die bedeutsamen gerichtlichen Entscheidungsgründe - dargestellt werden. Hierzu im Einzelnen:
I. Rechtsprechung Regel- und Förderschulen bezüglich (angemessene) Schulbildung (Anspruchsgrundlage § 54 Abs. 1 Nr. 1 SGB XII a.F. bzw. § 112 Abs. 1 Nr. 1 SGB IX n.F.)
Gerichte | Beschluss/Urteil/Datum/Az. | Schlagwörter |
1. LSG Baden-Würtemberg 1.1. Vorinstanz: SG Freiburg | Beschl. 11.02.20, Az. L 2 SO 429/20 Beschl. 16.01.20, Az. S 9 4798/19 ER | Kernbereich pädagogischer Tätigkeit nicht betroffen - typische integrierende Assistenzdienste- Sozialhilfeträger muss vorleisten mit Regressmöglichkeit gem. § 93 SGB XII a.F. bzw. § 141 SGB IX n.F.) |
2. LSG NRW | Doppelbesetzung DGS-Dolmetscher im Gymnasium notwendig - behindertem Kind sind durch gleichberechtigte Teilnahme am Unterricht dieselben Chancen auf Schulbildung zu gewähren wie nichtbehinderten Mitschülern | |
3. LSG Hessen | Hochgradige Hörschädigung erschwert trotz FM-Anlage das Verstehen der Lautsprache - auch die Schulfächer Geschichte und Musik entfalten keine maßgebenden Unterschiede zu den sprachlichen Unterrichtsfächern | |
4. LSG Sachsen | Abgrenzung sozialhilferechtliche Eingliederungshilfe und Kernbereich pädagogischer Tätigkeit - für die Fächer Sport, Musik/Rhythmus, Kunst und Werken wird eine Übersetzungstätigkeit in DGS verneint, da sprachlich geprägte Vermittlung der Lehrinhalte nicht im Vordergrund steht. | |
5. LSG Sachsen-Anhalt | Da Schulträger die Beschulung mit Gebärdendolmetscher ablehnt, würde eine stattgebende Entscheidung des Senats in die Kompetenzen des Landes Sachsen-Anhalt als Schulträger der Landesschulen unter Verstoß der landesrechtlichen Hoheit gem. Art. 30 und 70 Abs. 1 GG eingreifen. | |
6. SG Kassel | Nachmittagsangebot in Grundschule verpflichtet Sozialamt unter Berücksichtigung des Grundsatzes der Gleichbehandlung zur Kostenübernahme | |
7. SG Leipzig | Beschl. 22.11.18, S 10 S0 110/18 ER | Unterrichtsstoff ist für Schülerin ohne Gebärdendolmetscher nicht ausreichend vollständig wahrnehmbar |
8. SG Mannheim | Beschl. 30.10.20, S 3 SO 2144/20 ER | Gebärdendolmetscher in Regelschule auch dann in Anwesenheit der Sonderpädagogin notwendig, wenn diese die Deutsche Gebärdensprache beherrscht. |
Tabelle wird fortgeführt......
II. Rechtsprechung Kindergarten (Anspruchsgrundlage §§ 53, 54 SGB XII i.V.m. §§ 55,58 SGB IX a.F. bzw. §§ 99, § 113 SGB IX n.F.)
Gerichte | Beschluss/Urteil/Datum/Az. | Schlagwörter |
1. LSG Rheinland-Pfalz | Frühkindlicher Bereich für soziale Eingliederung erheblich von Bedeutung | |
2. LSG Schleswig-Holstein | Bei nicht hochfrequenter Förderung Gefahr, überhaupt eine Sprache zu erlernen bzw. unmöglich. | |
3. SG Magdeburg | Verweigerung eines CI geschützt durch Art. 2 GG sowie Art. 6 GG - Integration in Kindergarten bedingt Einsatz der Gebärdensprache | |
Tabelle wird fortgeführt......
III. Rechtsanspruch Hausgebärdensprachkurs gehörloser Kinder (Anspruchsgrundlage §§ 53,54 SGB XII a.F. bzw. §§ 99, 113 SGB IX n.F.)
Gerichte | Beschluss/Urteil/Datum/Az. | Schlagwörter |
1. LSG Bayern | Es besteht nach Einschätzung des Senats die gute Möglichkeit, dass ohne die Übernahme der Kosten für einen Hausgebärdensprachkurs irreversible Entwicklungsverzögerungen entstehen, die die Fähigkeit, an der Gesellschaft teilzuhaben, erheblich beeinträchtigen. | |
2. LSG Schleswig-Holstein | Wird das Kind insbesondere im grammatikalischen Denken nicht innerhalb der nächsten 1 1/2 Jahre gefördert, ist ein gelungener Spracherwerb nicht zu erreichen (Verweis auf reduziertes Sprachfenster). | |
3. LSG Nieders.-Bremen | Regulärer Schulunterricht im Fach Deutsche Gebärdensprache nicht geeignet, dem in Syrien geborenen Kind angemessene Sprachkenntnisse zu vermitteln - Bedarf an zusätzlicher Sprachförderung nur durch Hausgebärdensprachkurs gedeckt | |
4. SG Nürnberg | Für Kinder mit CI`s ist das Hören ein hoher Stress, sodass die Möglichkeit bestehen müsse, "Hörurlaub" zu nehmen - das Erlernen der Gebärdensprache verbessert in nicht unerheblichem Maße die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben | |
5. SG Würzburg | Krankenkasse als erstangegangener Rehabilitationsträger gem. § 14 SGB IX vorrangig verpflichtet, anstelle des Sozialhilfeträgers die Kosten für einen Hausgebärdensprachkurs im Rahmen der Eingliederungshilfe zu übernehmen.. | |
6. SG Nürnberg | Art. 24,30 UN-BRK stärken die Rechtsansprüche von hörbeeinträchtigten Hilfesuchenden und sind bei der Auslegung des Begriffs ""Erforderlichkeit" heranzuziehen. Auch gute lautsprachl. Entwicklung mittels CI´s begründet Anspruch auf Erlernen der DGS. |
Tabelle wird fortgeführt......
IV. Rechtsanspruch Hausgebärdensprachkurs hörender Eltern (Anspruchsgrundlage § 27 SGB VIII/Hilfe zur Erziehung)
Gerichte | Beschluss/Urteil/Datum/Az. | Schlagwörter |
1. VG Ansbach | Der Hausgebärdensprachkurs soll Eltern in die Lage versetzen, die Erziehung ihrer schwer hörbeeinträchtigten Kinder eigenständig zu gewährleisten (Hilfe zur Selbsthilfe). | |
2. VG Halle | Trotz Implantatversorgung keine - wissenschaftlich begründete - Erwartung, die Lautsprache zu erlernen - | |
3. SG Detmold | Ohne Gebärdensprache kann eine dem Kindeswohl entsprechende Erziehung nicht erfolgen | |
siehe auch Ausführungen u. Urt. VG Dresden vom 18.7.18, Az. 1 K 2853/16 (von Dritten erstritten) | ||
Tabelle wird fortgeführt......
V. Bedeutsame Entscheidungen der Sozialgerichtsbarkeit, die von Dritten erstritten wurden.
Gerichte | Beschluss/Urteil/Datum/Az. | Schlagwörter |
Bundessozialgericht | Gehörloses Schulkind hat im Einzelfall Anspruch auf den Einsatz eines Gebärdensprachdolmetscher, wenn es nur auf diese Weise imstande ist, dem Unterricht zu folgen. | |
Bundessozialgericht | Außerhalb des Kernbereichs der pädagogischen Arbeit ist eine Leistungspflicht des Sozialhilfeträgers zu bejahen, solange und soweit der Schulträger seiner (ggf durch Landesrecht begründeten) Pflicht zur Deckung der Bedarfe im Einzelfall nicht nachkommt, auch wenn davon pädagogische Aufgaben mit umfasst sind. Der Beklagte kann den Kläger auch nicht darauf verweisen, dass es vorrangig Aufgabe der Schule als Sonderpädagogisches Bildungszentrum mit Förderschwerpunkt geistige Entwicklung gewesen sei, alle notwendigen (personellen) Maßnahmen zu ergreifen, um seinen Schulbesuch sicherzustellen. | |
LSG Rheinland - Pfalz | Erlernen der Gebärdensprache durch einen an hochgradiger Schwerhörigkeit leidenden Versicherten stellt kein nach §§ 27, 32 SGB 5 verordnungsfähiges Hilfsmittel dar | |
Tabelle wird fortgeführt......
VI. Zudem wird ergänzend auf diverse Gerichtsentscheidungen, Musteranträge und Hilfestellungen bei Widersprüchen etc. hingewiesen, die der Homepage von Frau Kestner unter dem nachfolgenden Link entnommen werden können:
Link https://www.kestner.de/n/elternhilfe/recht/leitfaden-recht.htm